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30.05.2005 – Bundesverband

Akademisierung der Physiotherapieausbildung

Deutscher Sonderweg - \"Akademische Weihen“ erfahren derzeit in Deutschland nur rund zwei Prozent eines Ausbildungsjahrganges / ZVK fordert Öffnungklausel im Berufsgesetz
Vor fünf Jahren wurden die ersten Studiengänge für Physiotherapeuten nach jahrelanger Vorarbeit, an denen auch der Deutsche Verband für Physiotherapie -Zentralverband der Physiotherapeuten/Krankengymnasten (ZVK) e.V. auf politischer und fachhochschulischer Ebene beteiligt war, eröffnet. Das große Engagement der Fachhochschulen in Osnabrück und Hildesheim und die aufgeschlossene Haltung der niedersächsischen Landesregierung, vornehmlich des Wissenschaftsministeriums, machten erste Studienangebote für Physiotherapeuten möglich. Entsprechend den bundesgesetzlichen Vorschriften ist allerdings kein Studium vom ersten Tage an möglich. Die Aufnahme des Studiums setzt immer eine abgeschlossene Physiotherapieausbildung nach den Vorgaben des Berufsgesetzes und der Ausbildungs- und Prüfungsordnung voraus. Da eine Anrechnung von außerhalb der Hochschule erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten auf Studiengänge möglich war, konnte der zeitliche Aufwand für das Studium im Anschluss an die Physiotherapieausbildung in den niedersächsischen Modellen auf drei Semester reduziert werden, so dass der Bachelor-Grad nach einer Gesamtausbildungszeit von viereinhalb Jahren erreichbar ist. Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass nach den im europäischen Hochschulraum eingeführten/einzuführenden gestuften Bachelor-/Master-Studiengängen der Bachelor-Grad als erster berufsqualifizierender hochschulischer Abschluss in der Regel nach drei Jahren erreicht werden soll. \"Schlimmer noch“, betont Bodo Schlag, Stv. Vorsitzender des ZVK: \"Während in der gesamten EU und demnächst auch in der Schweiz die Ausbildung von Physiotherapeuten auf hochschulischem Niveau (überwiegend Fachhochschule, teilweise auch Universitäten) angesiedelt ist, geht Deutschland einen europäischen Sonderweg, indem die primäre Berufsqualifikation auf schulischem- bzw. Lehrgangs-Niveau stattfindet“. \"Akademische Weihen“ erfahren derzeit in Deutschland nur schätzungsweise zwei Prozent eines Ausbildungsjahrganges - im übrigen Europa sind es 100 Prozent. \"Dies führt heute schon zu erheblichen Nachteilen für deutsche Physiotherapeuten auf dem EU-Arbeitsmarkt und darüber hinaus zu einer Abkopplung der deutschen Physiotherapie von europäischen und internationalen Standards in der Ausbildung“, betont Bodo Schlag. Die Politik verhält sich in der Akademisierungsfrage restriktiv Die Politiker reagieren auf diese Entwicklung mit stoischer Gelassenheit, man könnte auch sagen mit Ignoranz, so Schlag. Der vom ZVK immer wieder im Bundesministerium für Gesundheit eingeforderten Öffnungsklausel im Berufsgesetz, die eine akademische Ausbildung vom ersten Tag an - zumindest in Modellen - ermöglichen würde, stehe man in den entscheidenden Ministerien ablehnend gegenüber, so Schlag. Fast sei man versucht zu hoffen (wären die Folgen für deutsche Physiotherapeuten in Europa nicht so dramatisch), dass die zur Zeit im Europäischen Parlament diskutierte Neuordnung der gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen Wirklichkeit wird. Nach dem derzeitigen Diskussionsstand wäre die deutsche Physiotherapie-Ausbildung zwei Stufen unter dem in Europa üblichen Niveau angesiedelt, was bedeuten würde, dass deutsche Physiotherapeuten in keinem EU-Land mehr arbeiten könnten, betont Schlag. Eine so gelagerte Entscheidung des Europäischen Parlaments würde zwangsläufig den Druck auf die deutsche Politik in der Akademisierungsfrage erhöhen. Solange keine Öffnungsklausel existiert bzw. der prinzipielle Wechsel von der schulischen zur hochschulischen Physiotherapieausbildung nicht vollzogen wird, müsse in Deutschland jeder Studiengang mit der stundenmäßig enorm umfangreichen schulischen Ausbildung \"zwangsverzahnt“ werden, so der Stv. Vorsitzende des ZVK. Gesamtausbildungszeiten von bis zu sechs Jahren (anstatt sechs Semestern entsprechend der Bologna-Erklärung!) zum Erwerb des Bachelor-Grades sind somit in Deutschland die Folge. Neue Studiengangsmodelle versuchen Nachteile zu minimieren In zwei Bundesländern (Schleswig-Holstein/Brandenburg) sind in Abstimmung zwischen Fachhochschulen und Länderregierungen Studiengangsmodelle entwickelt worden, die als \"Duale Studiengänge“ bekannt sind. Hierbei laufen schulische und akademische Ausbildung über zwei bis drei Jahre parallel (FH Kiel, FH Lausitz), was die Gesamtausbildungszeit bis zum Bachelor minimiert. Aber auch hier müssen die Anforderungen der schulischen Ausbildung nach dem Berufsgesetz Inhalt für Inhalt und Stunde für Stunde abgearbeitet werden. Die durch das Studium zu entwickelnden Kompetenzen müssen zeitaufwändig zusätzlich und teilweise parallel zu den Anforderungen der regulären Physiotherapie-Ausbildung (die alleine schon in der Regel eine weit mehr als 40-stündige wöchentliche Arbeitsbelastung darstellt) erworben werden. Fachhochschulen als Motor der Akademisierung \"Es muss ausdrücklich betont werden, dass diese Entwicklung des deutschen Sonderwegs in Europa nicht zu Lasten der Fachhochschulen geht, sondern zu Lasten der Politik“, so Bodo Schlag. Deren Prämisse besteht darin, dass die Physiotherapieausbildung auch weiterhin für Absolventen mit Mittlerer Reife offen zu halten ist und dass die durch die schulische Ausbildung erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten für eine ausreichend gute Patientenversorgung - auch in der Zukunft - genügend sind. Diese Auffassung wird vom ZVK und den engagierten Fachhochschulen nicht geteilt, betont der Stv. ZVK-Vorsitzende. Allen Fachhochschulen, die Studiengänge für Physiotherapeuten eingerichtet haben (Liste der Studiengänge auf www.zvk.org) sei großer Respekt zu zollen, denn neben den in vielen Bundesländern restriktiven politischen Rahmenbedingungen müssen die Fachhochschulen mitunter nicht unerhebliche hochschulinterne Schwierigkeiten überwinden, bevor ein Studiengang erfolgreich gestartet werden kann, so Schlag. Schließlich gibt es in der Regel kein \"frisches Geld“ aus den Wissenschaftsministerien für den Aufbau von Studiengängen für Physiotherapeuten. Vielmehr müssen die Fachhochschulen die Studiengänge weitestgehend mit Bordmitteln (finanziell und personell) initiieren, was bedeutet, dass \"Verteilungskämpfe“ innerhalb einer Fachhochschule zu bestehen sind. Auch die curriculare Ausgestaltung der Studiengänge stelle die Studiengangskoordinatoren vor nicht unerhebliche Probleme, so Schlag: \"Sollen die Studiengänge auf den \"reflektierenden Praktiker“ ausgerichtet werden oder sollen sie eher Angebote zur Lehrqualifikation, Forschung und Management enthalten?“ Letzteres sind allerdings Studienschwerpunkte, die üblicherweise im EU-Ausland dem Master-Abschluss vorbehalten sind. Zunahme von Studienangeboten an Privaten Fachhochschulen In einigen Bundesländern seien die politischen Ressentiments gegen eine akademische Physiotherapie-Ausbildung so stark, dass Aktivitäten von öffentlichen Fachhochschulen erheblich gebremst werden und letztendlich nur die Möglichkeit der Einrichtung eines Studienganges an einer Privaten Fachhochschule mit Studiengebühren bestehe, erklärt der Stv. ZVK-Vorsitzende. Möglicherweise werden sich die Studienangebote an Privaten Fachhochschulen als einzige in Zukunft noch ausweiten, denn die \"Gründerzeit“ der Studiengänge an öffentlichen Fachhochschulen scheint sich ihrem Ende zuzuneigen. Dies wiederum führe nach Ansicht des Stv. ZVK-Vorsitzenden zu einer erneuten finanziellen Belastung der Studierwilligen, die in der Regel bereits drei Jahre Schulgeld für ihre primärqualifizierende nichtakademische Ausbildung gezahlt haben. Abgemildert werde die finanzielle Belastung eines Studiums an einer Privaten Fachhochschule lediglich dadurch, dass dieses überwiegend berufsbegleitend angeboten wird. Bodo Schlag betont allerdings, dass sich in Deutschland trotz der oftmals schwierigen politischen Rahmenbedingungen ein thematisch und geographisch recht breit gefächertes Angebot an Physiotherapie-Studiengängen entwickelt hat. Jeder Studierwillige sei gut beraten, sich über die Konzepte und Inhalte der verschiedenen Studiengänge genau zu informieren, um eine seiner Interessenlage adäquate Entscheidung für das Studium treffen zu können. In Kürze werde es hierzu auch ein breites Informationsangebot des BundesStudierendenRates des ZVK auf der ZVK-Homepage geben. \"Der ZVK wird auch in Zukunft die enge Zusammenarbeit mit den Fachhochschulen suchen und durch weitere Maßnahmen (Wissenschaftspreis, Forschungssymposium der Physio-Akademie des ZVK, BundesStudierendenRat), den Akademisierungsprozess mit gestalten und vorantreiben“, erklärt der der Stv. ZVK-Vorsitzende.