Mitglied werden
10.01.2006 – Bundesverband

Erfahrungsbericht - Als deutsche Physiotherapeutin in Australien

Die gesetzliche Mindestversicherung beinhaltet keine Physiotherapie – Dafür ist der Stellenwert des Physiotherapeuten in Australien höher als in Deutschland
Zur Person: Tina Lohner, 30 Jahre, wohnhaft in Sydney, Australien „Ich habe meine Physiotherapieausbildung in Koblenz von 1993 -1995 gemacht, mit anschließendem Anerkennungsjahr. 1998 bin ich nach Australien gegangen. Nachdem klar war, dass ich eine Weile bleiben würde und ein Arbeitsvisum (ursprünglich für einen anderen Job) bekam, fing ich an, Informationen zu sammeln, die es mir ermöglichten, auch hier in meinem Beruf als Physiotherapeutin zu arbeiten. Wer in Australien Physiotherapeut werden will, muss eine gute bis sehr gute Abitursnote haben, um einen Studienplatz zu erhalten. Nach erfolgreichen vier Jahren Studium an der Universität erhält man den akademischen Abschluss \"Bachelor of Applied Science\". Das Studium selber ist wohl sehr anspruchsvoll und viele springen ab. Andererseits studieren viele australische Physiotherapeuten noch weiter, machen ihren Master oder studieren Medizin. Es gibt hier gewisse Standards, die die Australier sich auch erhalten wollen und sie machen es Ausländern, die nach einem anderen Ausbildungssystem gelernt haben nicht sehr einfach. Auf das Anerkennungsverfahren komme ich später zurück. Das Gesundheitssystem in Australien garantiert eine gesetzliche Mindestversicherung für jeden Bürger. Diese beinhaltet jedoch keine Maßnahmen der Physiotherapie. Wenn der Patient nicht privat oder in Zusammenhang mit einem Arbeits- oder Autounfall versichert ist, hat er in der Regel keinen Anspruch auf Physiotherapie nach Entlassung aus der Reha. Wer möglichst nahe an einem der größeren Krankenhäuser wohnt, kann ggf. dort sechs Wochen ambulante Therapie erhalten, ansonsten bezahlt man auf privater Basis. Eine Überweisung des Arztes ist nicht nötig. Da ich seit langem nicht mehr in einem deutschen Krankenhaus gearbeitet habe, kann ich die Krankenhaussysteme nicht vergleichen. In der Praxis fasziniert mich jedoch in Deutschland immer wieder die Tatsache, wie verwöhnt die Leute sind, was die Anzahl der Therapien betrifft und welche Erwartungen sie an den Therapeuten haben. Der Stellenwert des Physiotherapeuten in Australien ist allerdings höher als in Deutschland. Hier werden verstärkt wissenschaftliche, analytische Fähigkeiten von Physiotherapeuten erwartet. Der Physiotherapeut in Australien darf auch bestimmte Verordnungen und Überweisungen (z.B. Rollstühle oder Orthesen) verschreiben und ist dabei nicht auf die Zustimmung des Arztes angewiesen. Australische Physiotherapeuten machen keine Massagen. Es gibt viele Möglichkeiten als Physiotherapeut zu arbeiten, z.B. auch für Versicherungen in einem multidisziplinären Team als \"consultant\". Der Verdienst ist dementsprechend höher als in Deutschland. Die Bezahlung wird nach Arbeitserfahrung berechnet. Es gibt vorgeschriebene Sätze, die sich jedes Jahr erhöhen. In der freien Praxis ist die Bezahlung verhandelbar und meistens besser bezahlt als im Krankenhaus. Ich kenne den aktuellen Satz für Berufsanfänger nicht, doch mit einigen Jahren Berufserfahrung kann hier der Satz bei circa $ 1.000 pro Woche liegen. (1 Euro = ca. 1,4 Kanadischer Dollar). In den Krankenhäusern wird in multidisziplinären Teams gearbeitet, d.h. auf einer Reha-Station besteht das Team aus Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Sozialarbeitern, Sprachtherapeuten, Ärzten und Diätassistenten. Die \"case conferences\" (Fallbesprechungen) finden jede Woche statt und sind immer sehr ausführlich. Alle Aspekte der verschiedenen Disziplinen und alle \"Goals\" (Ziele) werden für jeden Patienten durch gesprochen. Alles wird akribisch dokumentiert. Jede Erklärung, die ich dem Patienten gebe, sowie alle Tests und erneuten Befunde nach jeder Behandlung, muss dokumentiert werden.Gerichtliche Auseinandersetzungen wegen Therapieschritten gegen das Krankenhaus oder den Therapeuten sind häufig. Jede physiotherapeutische Maßnahme muss \"evidence-based\" sein, (fast) alles was man macht, muss mit Studien belegt werden können und alles ist standardisiert. Viele australische Physiotherapeuten sind in Forschungsprojekte eingebunden. Es dürfen keine Aussagen oder Behandlungsansätze verwendet werden, die nicht statistisch nachzuweisen bzw. zu belegen sind. Außerordentlich gut organisiert ist die Entlassungsphase, in der Hausbesuche gemacht werden, um zu sehen, wie der Patient zu Hause zurechtkommt, ob er sicher ist oder ggf. eine Rampe für den Rollstuhl oder Modifikationen im Haus etc. braucht. Es gibt auch eine Assistenz bei der Wohnungssuche für behindertengerechtes Wohnen, wenn der Patient nicht mehr in sein eigenes Haus entlassen werden kann. Jede Woche finden \"Inservices\" statt. Jeder im Team muss sich dabei aktiv beteiligen und alle paar Wochen eine neue Studie oder ein bestimmtes Krankheitsbild vorstellen und besprechen. Alle paar Monate hält jeder von uns eine längere Präsentation über disziplinspezifische Themen. In Australien wird großer Wert auf die \"Occupational Health and safety\" (OHS) Standards gelegt. Diese sind wichtig für ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld. Ich muss mich verpflichten, nichts zu tun (z.B. lifting) was mich oder die Patienten einem Risiko aussetzt. Generell finde ich es gut, dass es gewisse Standards gibt, doch in vielem sind sie auch recht übertrieben. In jedem Krankenhaus gibt es OHS-Manager und ein Commitee, die sich neue Regeln einfallen lassen. Ein gutes Beispiel ist, dass ich in meinem Büro nicht eine Pinnwand aufhängen darf, denn ich könnte mich ja verrenken und wäre arbeitsunfähig! Einmal ist mir ein „Amputee“ Patient beim Gehtraining auf dem Flur ausgerutscht, weil er es eilig hatte, zur Toilette zu kommen. Ich durfte ihm nicht hoch helfen, auch nicht mit Hilfe einer anderen Person. So musste der arme Kerl auf dem Boden sitzend aushalten, bis der „Lifter“ auf Station frei wurde und wir ihn in den Toilettenstuhl liften konnten. Die \"NO-Lift-Regeln\" machen schon Sinn, doch in dem Fall hätte ich ihm so gerne einfach hochgeholfen, damit er es noch zur Toilette schafft. Die Regeln werden hier auch sehr ernst genommen und es gäbe noch viele weitere Beispiele. Ebenso wichtig ist das \"Quality Management\". Es werden ständig neue Projekte entwickelt, die die Qualität verbessern z.B. über die Erstellung von Qualitätsplänen. Jede Abteilung arbeitet über das Jahr verteilt an verschiedenen Projekten zur Verbesserung der Arbeits- und Behandlungsqualität. Außerdem gibt es für alle Mitarbeiter und Abteilungen regelmäßige „Leistungsreviews“ (Rückschau) und die „policies and procedures“ der Krankenhäuser werden regelmäßig auf Leistung und Wirkung überprüft und evaluiert. Zu dem \"Australian Quality improvement program\" gehört die ständige Auswertung von aktuellen Statistiken. Die neuen Qualitätsprogramme werden dann standarisiert. Zur Zeit arbeite ich mehr in einer \"consultant\" Rolle als Physiotherapeutin für Querschnittspatienten. Wir arbeiten in einem multidisziplinären Team, mit Krankenschwestern, Physio- und Ergotherapeuten, Sozialarbeitern und einem medizinischen Rehaspezialisten. Wir übernehmen Querschnittspatienten die gerade aus der Rehabilitation entlassen wurden und sich erst wieder zurechtfinden müssen. Der erst Kontakt mit den Patienten erfolgt kurz vor der Entlassung aus der Rehabilitation. Zuerst werden bei der ausführlichen, multidisziplinären Befundung die Hauptprobleme heraus kristallisiert, z.B. das Zurechtfinden in der \"Gemeinschaft\", dafür wäre mehr der Sozialarbeiter zuständig, bei Blasenproblemen die Krankenschwester und für die Erstellung von Übungsprogrammen oder dem Umgang mit dem Rollstuhl die Physiotherapeuten. Als Physiotherapeutin mache ich meine Befundung im Hause des Patienten, berate den Patienten, erstelle ein \"Home-exercise-program\", überprüfen, ob er mit seinem Rollstuhl drin und draußen zurecht kommt und mache Trainingssitzungen mit dem Pflegepersonal, das sich um ihn kümmert und das Dehnprogramm ausführen kann. Oft nehme ich den ein oder anderen mit zum Fitnesstudio und erstelle mit ihnen ein Programm, versuche sie für Rollstuhlsport zu begeistern oder für Handcycling. Oder ich überweise ihn für eine weitere Therapie an andere Physiotherapeuten. Wir geben auch Training in anderen Rehakrankenhäusern und müssen auch regelmäßig an Fortbildungen und Konferenzen teilnehmen. Das Annerkennungsverfahren Man kontaktiert am besten ACOPRA (Australian Council of Physiotherapy Regulating Authorities) und AECOP (Australian Examination Committee for overseas Physiotherapists), um die aktuellen Informationen zum Examensprozess zu bekommen. Das Prozedere beginnt mit einem Medical English Test (written, spoken, listening). Danach folgt das written- oder screening Exam. Das geht über zwei Tage und ist ein Multiple Choice Examen in allen relevanten Fächern. Die Fragen gehen sehr ins Detail. Dieses Examen kann man auch in Deutschland machen. Als Vorbereitungsmaterial bekam ich damals eine lange Liste mit Buchempfehlungen, \"Study Guides\", ein Datum und natürlich die Rechnung (das waren damals schon mehrere Hundert Dollar pro Examen). Die Durchfallquote beim ersten Versuch ist 50 - 60 Prozent! (laut AECOP). Der Screening Test kann zweimal im Jahr gemacht werden, insgesamt hat man drei Versuche. Es wurden viele Dinge abgefragt, die ich von meiner Ausbildung (nach dem alten Ausbildungssystem) nicht gelernt hatte. Zum Beispiel die Interpretation von Röntgenbildern und das analysieren von Blutwerten. Wenn das geschafft ist, wird empfohlen, ein klinisches Praktikum (placement) in einem der Lehrkrankenhäuser zu machen, am besten jeweils einen Monat in den jeweiligen Bereichen. Das muss man sich allerdings selber organisieren. Zu guter letzt kann man noch ein \"clinical Exam\" machen, d.h. jeweils eine Stunde lang vor drei Prüfern am Patienten, befunden, behandeln und wiederbefunden. Das ganze in drei Schwerpunkten: Neurologie, Herz-Kreislauf und Bewegungssystem. Nach zirka vier bis sechs Wochen erhält man das Ergebnis schriftlich (wie bei den vorherigen Prüfungen auch). Da die Examensdaten nur zweimal im Jahr sind und die Chance durchzufallen groß ist, kann sich also das Ganze gut und gerne zwei Jahre hinziehen. Mit der Urkunde kann man sich beim Physiotherapy Registration Board als praktizierender Physiotherapeut registrieren lassen. Die Registrierung muss jedes Jahr erneuert werden und der Antrag wird zusammen mit den geleisteten Fortbildungsnachweisen abgegeben. Wenn man die jährliche Antragstellung verpasst, kann es zu Schwierigkeiten kommen, wieder eingetragen zu werden. Das Annerkennungsverfahren ist unabhängig von einer Arbeitserlaubnis! Wer dazu Informationen will, wendet sich am besten an die Australische Botschaft in Deutschland. Wer mehr Infos haben möchte, geht am besten auf die Websites der verantwortlichen Organisationen: www.acopra.com.au/index_ht www.acopra.com.au/eligibility (Examens informationen) www.physiotherapy.asn.au (Australian Physiotherapy Association) Die Regeln haben sich vielleicht inzwischen etwas gelockert, da viele australische Physiotherapeuten ins Ausland gehen. Momentan werden mehr Physiotherapeuten gebraucht! Ich hoffe, mein Bericht gibt einen kleinen Einblick in die „Australische Welt der Physiotherapeuten.“ Tina Lohner aus Sydney/Australien Hinweis der Redaktion: Bei weiteren Fragen oder Anregungen zur Arbeit als Physiotherapeut in Australien oder in anderen Ländern wenden Sie sich an das Referat Aus-, Fort- und Weiterbildung im ZVK. Nehmen Sie Kontakt auf unter Angabe Ihrer Mitgliedsnummer und Ihres Landesverbandes unter info@zvk.org .