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27.10.2008 – Bundesverband

Forscher untersuchten Schmerz und Suizidrisiko

Guter Schutz: den Schmerz akzeptieren

Wenn im klinischen Alltag von "unerträglichen Schmerzen" die Rede ist, werden Begriffe wie "Vernichtungsschmerz" oder "Selbstmordschmerz" verwendet. Damit wird, auch im Gespräch mit Patienten, ein enger Zusammenhang zwischen Schmerz und Selbstmordneigung nahe gelegt - aber gibt es diesen Zusammenhang wirklich? Diese Frage haben Mainzer Forscher in einer Studie mit chronischen Schmerzpatienten ergründet, die Dr. Paul Nilges (DRK-Schmerzzentrum Mainz) beim Deutschen Schmerzkongress in Berlin vorstellte.

Fazit: Ein direkter Zusammenhang zwischen chronischem Schmerz und Selbstmord lässt sich nicht nachweisen. Indirekt wirken jedoch Depressionen, die den Schmerz verstärken und durch ihn verstärkt werden können, eine wichtige Rolle. Eine akzeptierende Haltung dem Schmerz gegenüber ist dagegen ein Schutzfaktor gegen das Selbstmordrisiko.

Selbstmordgedanken sind bei Schmerzpatienten häufiger

Bisherige Untersuchungen bestätigen, dass bei Patienten mit chronischen Schmerzen Suizidgedanken, -absichten und -handlungen häufiger auftreten als bei der Allgemeinbevölkerung. Der Zusammenhang zwischen der Suizidalität und tatsächlichem Selbstmord ist jedoch unklar: Suizidgedanken führen nicht automatisch zu Suizidhandlungen. Und selbst Suizidhandlungen und Suizid sind nicht gleichbedeutend. Während z.B. die Zahl der Suizidversuche bei jungen Frauen am höchsten ist, sind die tatsächlichen Suizide bei älteren Männern 20-mal häufiger. Wie hängen also Schmerz und Selbstmordrisiko zusammen? In einer Mainzer Studie wurden mit strukturierten Interviews und standardisierten Verfahren die klinischen Diagnosen (affektive Störungen, Angststörungen), das Ausmaß psychischer Belastungen (Depressivität, Angst, Stressbelastung), Schmerzcharakteristika und Merkmale von Suizidalität (Gedanken an den Tod, Suizidgedanken, -absichten) erfasst. An der Studie nahmen stationär behandelte Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation teil. Erfasst wurden sowohl die Häufigkeit als auch die Intensität von Suizidtendenzen. "Wenn Schmerz und Suizidalität direkt zusammenhängen, sollte dies in den Daten erkennbar sein", erklärte Dr. Nilges. "Daher haben wir Beziehungen zwischen Suizidalität und Charakteristika von Schmerz überprüft."

Keine direkte Beziehung

Im Einzelnen analysierten die Forscher den Zusammenhang zwischen der Häufigkeit und Intensität von Gedanken an den Tod sowie an Suizid einerseits und der erlebten Schmerzstärke, der bisherigen Dauer der Schmerzen und der Zeitdauer im Tagesablauf andererseits. Das wichtigste Ergebnis: Eine direkte Beziehung zwischen Schmerz und Suizidalität ist nicht nachweisbar. "Weder die Dauer noch unterschiedliche Aspekte der Schmerzintensität, momentane, übliche, maximale, stehen im Zusammenhang mit Suizidgedanken oder Gedanken an den Tod", so Nilges. "Auch in anderen Studien ist dieser Zusammenhang mit Schmerzcharakteristika nicht eindeutig - Ergebnisse die den üblichen Vermutung über eine enge Beziehung widersprechen."

Einstellung als Schutzfaktor

Ein wichtiger Aspekt sind jedoch die mit Schmerz zusammenhängenden psychischen Belastungen: Das Risiko, bei Schmerzen depressive Störungen zu entwickeln, ist deutlich erhöht. Schmerz kann außerdem die Intensität bestehender Depressionen verstärken. Umgekehrt wird vermutet, dass günstige Einstellungen die Belastung durch Schmerz reduzieren können. "Wir haben daher die mögliche Bedeutung einer akzeptierenden Einstellung gegenüber Schmerz als Schutzfaktor gegen Suizidalität untersucht", erklärt Nilges. "Und tatsächlich konnten wir nachweisen, dass eine ausgeprägte Tendenz, Schmerzen als Teil des Lebens zu akzeptieren und dennoch aktiv zu bleiben, mit geringeren Suizidtendenzen verbunden ist."

Indirekter Zusammenhang: Depression als Mittler

Bei Patienten mit chronischen Schmerzen bestehen also keine direkten Beziehungen zwischen Suizidalität mit Schmerz selbst, sehr wohl jedoch mit Depressivität und depressiven Störungen. Wie zu erwarten war, gaben Patienten mit einer depressiven Störung sowie Menschen mit deutlich bedrückter Stimmung Suizidgedanken und Gedanken an den Tod häufiger an. Gedanken an den Tod äußern Patienten aus unterschiedlichen Gründen. Einige Patienten betonen die entlastende Funktion, die mit dem Wunsch, das aktuelle Leiden sei zu Ende, verbunden ist. Ihnen geht es weniger darum, ihr Leben zu beenden, sondern um die Vorstellung, eine "Schmerzpause" zu haben. Auch der Aspekt, wieder Kontrolle über das eigene Leben zu erlangen und zu entscheiden, kann als entlastend erlebt werden. In Phasen mit ungewöhnlich starken Schmerzen wird dies gelegentlich geäußert, ohne dass damit konkrete Absichten verbunden sind.

Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V. (DGSS)